Sartorius Quartier in Göttingen
Knapp zwei Kilometer nördlich der Göttinger Innenstadt liegt das neue Sartorius Quartier. Gemäß dem Motto „Bilden. Gründen. Wohnen.“ setzt es einen wichtigen Impuls für die Entwicklung der Nordstadt hin zu einem nutzungsgemischten Stadtteil.
VOM WERKSGELÄNDE ZUR URBANEN VIELFALT
Es ist ein vertrauter Vorgang in unseren Städten: Ein traditionsreiches, über Generationen gewachsenes Unternehmen entscheidet sich, seinen innerstädtischen Standort aufzugeben. Für das frei werdende Areal bieten sich Chancen für eine neue städtebauliche Schwerpunktsetzung, etwa für den dringend benötigten Wohnungsbau. Ein eher seltener Glücksfall ist es allerdings, wenn später nicht nur ein klangvoller Name oder Baurelikte an den vormaligen Standortcharakter erinnern, sondern, in einer Art Funktionskontinuität, zumindest entscheidende Teilbereiche die ursprüngliche Nutzung und das Engagement des bisherigen Eigentümers weiterführen. Im Sartorius Quartier in Göttingen, zwischen 2019 und 2022 errichtet, ist dieses Konzept erfolgreich aufgegangen. Die Sartorius AG und der Projektentwickler HAMBURG TEAM ergänzten sich als Bauherren in verschiedenen Umnutzungs-
und Neubaumaßnahmen und wurden dafür doppelt ausgezeichnet. Aber von vorne: 1870 als Feinmechanische Werkstatt von Florenz Sartorius gegründet, war der Stammsitz des Unternehmens über die Zeit zu klein geworden. Deshalb reifte der Entschluss, eine neue Hauptniederlassung für das heute global operierende DAX-Unternehmen mit mehr als 10.000 Mitarbeiter:innen zu schaffen, in dessen Folge nordwestlich außerhalb der Göttinger Kernstadt 2018 der „Sartorius Campus“ entstand. Bereits drei Jahre zuvor hatte es einen Ideenwettbewerb für die Weiternutzung der rund 2,3 Hektar großen Flächedes alten Werkareals gegeben. Das siegreiche Büro Holzer Kobler Architekturen aus Zürich/Berlin wurde daraufhin 2016 mit einem Masterplan beauftragt.
Mauerwerk als Leitbild für Neubebauung
Der historische Kern des Geländes, das sogenannte Baufeld 1.1, hat die Sartorius AG selbst entwickelt, um dort wissenschaftlicher Forschung und technologischer Innovation Raum zu bieten. Zwei größere historische Gebäuderiegel konnten behutsam für den Gesundheitscampus der Hochschule für Angewandte Wissenschaft und Kunst, Standort Göttingen, adaptiert werden. Eine technisch optimal ausgestattete, multifunktionale Veranstaltungshalle wurde hinter der erhaltenen Giebelwand auf der Grundfläche einer vormaligen Produktionsstätte neu errichtet.. Die Sheddachhalle verweist in ihrer Baustruktur auf den historischen Vorgänger, ihr Innenleben lässt sich innerhalb weniger Stunden vollautomatisch von kleinteiligen Hörsaalangeboten in eine großen Veranstaltungshalle für bis zu 600 Personen verwandeln. Eckpunkt der Halle sowie Signet des gesamten Sartorius Quartiers ist der Turm des vormaligen Chefbüros. Er wurde um ein schwebendes Panoramageschoss ergänzt: ein gläserner Thinktank für bis zu 40 Personen, eingehüllt in variabel auffahrbare Paneele aus Streckmetall in Baubronze. Ein kleines Café im Erdgeschoss öffnet sich in die Sheddachhalle, eine Weinbar im Untergeschoss sowie Co-Working- Büros, ein Konferenzbereich für bis zu 14 Personen und auch eine Suite für Vortragende oder Künstler liegen in den Obergeschossen. Das Innere des Turmes präsentiert sich als Zusammenspiel aus roh belassener, von den vielfältigen Spuren der Nutzungsgeschichte gezeichneter historischer Substanz, einer eingestellten neuen Tragstruktur in Sichtbeton und präzise gesetzter moderner Ausbauelemente. Ein sehr edler, warmer Materialkanon aus viel hellem Holz, dunklem Natursteinfußboden und Bronze für Türdrücker und Armaturen spiegelt dabei den hohen gestalterischen Anspruch des lokalen Bauherrn wider.
Unser Anspruch muss es sein, urbane Räume und Ökosysteme nachhaltiger und lebenswerter für zukünftige Generationen zu gestalten.
Technologiestandort für Gründer Prämierte Vielfalt
Das Fassadenmaterial des Bestands – rotes Sichtmauerwerk, das teils von entstellenden Farbschichten befreit werden musste – wurde auch zum Leitbild zweier Neubauten im engeren Kern des Sartorius Quartiers. Die sogenannte Life Science Factory des Betreibers Sartorius AG, ein lang gestreckter, mit intensivroten Klinkerriemchen verblendeter Gebäuderiegel, hält in vier Geschossen auf über 3.000 Quadratmetern alles Notwendige für Firmengründungen im Bereich der Biologie, Chemie, Pharmazie und Medizin vor. Außer variablen, voll ausgestatteten Laboren, einer Prototyping- Werkstatt und Büros im Co-Working-Modus gehört ein individuell abrufbares Mentoring-, Coaching- und Veranstaltungsprogramm zum angebotenen Leistungsspektrum. In den öffentlichen Bereichen des Gebäudes trifft man erneut auf eine edle, sehr strapazierfähig ausgelegte Materialität: vor Ort gegossener heller Terrazzoboden oder geschliffener Estrich, Türblätter aus Holz mit Bronzedrückern und minimalistische Beleuchtungssysteme, die in sichtbar verbliebene Partien des Betonrohbaus eingelassen sind.
Nördlich an den inneren Kern angrenzend entstand das Kompetenzzentrum für Orthopädietechnik des Medizintechnikunternehmens Ottobock zusammen mit der Schwerpunktpraxis für ambulante Rehabilitation und Physiotherapie des Rehazentrums Junge. Die Patientenambulanz mit angegliederter Werkstatt im Erdgeschoss ergänzen Forschungs-, Bildungs- und Verwaltungsflächen in den oberen Stockwerken. Die Fassaden nehmen die roten Klinkerriemchen der Life Science Factory wieder auf.
Ein Kranz aus 230 differenzierten Wohneinheiten, einer Kita, einem Hotel mit mehrteiliger Gastronomie und der Skybar, einem Smart-Apartment-Gebäude sowie einem leistungsfähigen Gewerbe- und Bürogebäude formt in farblich abweichenden hellen Fassadenmaterialien den äußeren Quartiersabschluss. Das Hotel Freigeist mit 123 Zimmern, 114 Smart Apartments für einen längeren Aufenthalt und einer Eventküche werden vom regionalen Hotel-Unternehmen Freigeist & Friends geführt. Sein Augenmerk gilt einer modern-gastlichen und ebenso funktionalen Innenraumgestaltung, gerade auch in den Nassbereichen und Bädern. Der kollaborative Ansatz zwischen der Sartorius AG und HAMBURG TEAM stieß auch auf überregionale Anerkennung: So wurde das Sartorius Quartier bereits mit dem Brownfield24 Award Gold 2022 sowie dem B!WRD Projektentwickler Preis 2023 ausgezeichnet. Die Jurybegründungen verweisen speziell auf eine architektonisch hochwertige Flächenreaktivierung, die Ortsgeschichte aktiv fortschreibt und sich gleichzeitig durch einen vielfältigen Nutzenmix auszeichnet.
Objektdaten
- Architekten: Masterplan Holzer Kobler Architekturen Zürich/Berlin
- Entwurfs- und Ausführungsplanung u. a.: Bieling Architekten Hamburg, Charles de Picciotto Architekt Hamburg, Grüntuch Ernst Architekten Berlin (Entwurf), Thüs Farnschläder Architekten Hamburg
- Zeitplan Projektierung 2016–2019, Bauzeit 2019–2022
- Grundstück ca. 23.766 m²
- Projektvolumen ca. 45.500 m² BGF
- Wohnen ca. 37.250 m² BGF (170 Miet- und 53 Eigentumswohnungen)
- Kita 900 m² BGF
- Hotel 6.800 m² BGF
- Smart Apartments 5.500 m² BGF
- Gastronomie 500 m² Mietfläche
- Einzelhandel 440 m² Mietfläche, Büro/Einzelhandelsflächen 1.500 m², BGF Forschung/Bildung 12.700 m² BGF
- Parken ca. 339 Tiefgaragenstellplätze, ca. 28 E-Stellplätze
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"BROWNFIELDS GEWINNEN AN BEDEUTUNG" Im Interview: Dipl. Arch. ETH Stefanie C. Schupp, Projektleiterin in der Projektentwicklung von HAMBURG TEAM
Welche Potenziale sehen Sie in der Reaktivierung von Konversionsflächen für die Stadtentwicklung – gerade mit Blick auf den angespannten Wohnungsmarkt?
Es gibt mittlerweile großes Interesse an diesen Arealen. Der politische Druck, kombiniert mit dem Ziel, die Neuflächenversiegelung bis zum Jahr 2050 auf 0 ha zu reduzieren, zwingt Entwickler dazu, sich mit diesen Flächen zu befassen. So genannte Brownfields, also Grundstücke und Brachflächen mit industrieller Vergangenheit, die potenziell mit Gefahrstoffen belastet sein können, liegen städtebaulich oft günstig, verfügen über eine gute Infrastruktur und ermöglichen es, Altes mit Neuem zu verbinden. Das revitalisierte Sartorius Areal ist ein herausragendes Beispiel dafür.
Wegen der industriellen Vornutzung gingen dem Bau des Sartorius Quartiers Boden-Kontrollen und Reinigungen voraus. Wie sind Sie die Aufgabe angegangen?
In enger Abstimmung mit der Sartorius AG und den Behörden wurden zunächst Baggerschürfen an unterschiedlichen Stellen ingenieurgeologisch aufgenommen, beprobt, ausgewertet und die Ergebnisse protokolliert. Eine Mischprobe aus den Einzelentnahmen bestätigte eine weitgehende Eignung der Böden, sodass nur in Ausnahmefällen weitere baubegleitende Laboranalysen nötig waren. Im Zuge des Tiefbaus mussten Einzelentsorgungsnachweise eingereicht werden. In Teilbereichen wurde der Boden vorab thermisch saniert.
Eine unklare Flächenbeschaffenheit birgt finanzielle und rechtliche Risiken. Warum sind Brownfields für Projektentwickler und Investoren trotzdem attraktiv?
Gerade aus Nachhaltigkeitsgründen und einer verantwortungsvollen Unternehmenspraxis im Sinne des ESG-Ansatzes (Environmental, Social, Governance) bietet es sich an, diese Flächen als Alternativen zu prüfen. Insofern ist es mit Blick auf die Ressourcen meist sinnvoller, bereits entwickelte Areale zu nutzen, anstatt neue Grünflächen zu erschließen. Insbesondere internationale Investoren achten vermehrt darauf, ob die Entwicklung ganzheitlich geplant ist oder ob sie auf der grünen Wiese stattfindet, somit wird dieser Ansatz in Zukunft weiter an Bedeutung gewinnen. Generell kann gesagt werden, dass die Reaktivierung von Konversionsflächen die Chance auf eine weitere Stadtentwicklung und Verdichtung bietet und neue Impulse für das urbane Leben setzt.